«Wasser ist Leben: für uns, für den Planeten und für sich selbst»

Ein Fluss ist ein Lebensraum. Unbestritten. Ist ein Fluss auch ein Lebewesen? So wie im und auf dem Menschen Millionen von Mikroben, Bakterien usw. leben, so leben in einem Fluss Fische, Krebse, Pflanzen usw. Und so wie ein Mensch krank werden kann, können Flüsse krank werden, wenn wir sie verunreinigen. Und auch ein Fluss kann sterben. Ist ein Fluss somit auch eine Persönlichkeit mit einem Leben und mit Rechten wie ein Mensch?

Von Roland Brunner, Blue Community Zürich

Die Diskussion um die Rechtskörperschaft von Flüssen hat in den letzten Jahren Fahrt aufgenommen. Ziel von Umweltbewegungen, die sich dafür aussprechen und engagieren, Flüsse als Rechtsträger zu definieren, ist es, sie vor Ausbeutung zu schützen und – wie beim Menschen – Unversehrtheit zu gewährleisten. Erin O’Donnell ist dieses Thema schon vor Jahren angegangen. Hier eine Besprechung ihres Buches «Legal Rights for Rivers - Competition, Collaboration and Water Governance», das 2018 in der Reihe «Earthscan Studies in Water Resource Management» bei Routledge erschienen ist. *

Flüsse sind lebende Organismen

Erin O’Donnell ist Expertin für Wasserrecht und -politik mit mehr als zwei Jahrzehnten Erfahrung. Und sie ist Mitglied im Netzwerk der Blue Community Schweiz, wo sie schreibt: «Flüsse sind lebende Organismen, mit denen wir alle in einer Beziehung der gegenseitigen Abhängigkeit und Gegenseitigkeit stehen. Je eher wir aufhören, alle Wasserwege zu beherrschen und auszubeuten, desto eher können wir eine wirklich legitime und nachhaltige Lebensweise entwickeln. Wasser ist Leben: für uns, für den Planeten und für sich selbst.»

Auf gut 200 Seiten, in acht Kapiteln und mit einigen Grafiken legt O’Donnell dar, wie sie zu diesem Schluss kommt – und wo die Pferdefüsse dabei sind. O’Donnell fragt: «Wenn Flüsse rechtlich gesehen Menschen sind, fördert dies dann die Zusammenarbeit und Partnerschaft zwischen Menschen und Flüssen, oder werden Flüsse zu einem weiteren Konkurrenten um knappe Ressourcen?» Sie spricht von einem «unerwarteten Paradoxon»: «Die Verleihung von Rechtsansprüchen an die Natur kann ihre rechtliche Macht stärken, aber dadurch auch die Unterstützung der Gemeinschaft für den Schutz der Umwelt schwächen.» Wenn Flüsse oder die Natur Rechtspersonen sind, dann stehen ihre Rechte auch im Wettstreit mit den Rechten anderer Akteure. Die Natur steht also nicht mehr als Grundlage allen menschlichen Daseins über anderen Bedürfnissen und Rechtsansprächen, sondern sieht sich im Rechtssystem und auf dem Markt dem Interessenskonflikt mit anderen Rechtskörperschaften wie Aktiengesellschaften usw. ausgesetzt.

Die Erfahrungen aus den USA und Australien, die O’Donnell verarbeitet, dienen als Beispiele, um die Auswirkungen der Schaffung von Rechtsansprüchen für Flüsse auf die Wasserpolitik zu bewerten. Die ersten Lehren aus den neuen «Flussmenschen» zeigen, wie das Recht genutzt werden kann, um den Schutz der Flüsse zu verbessern und wie die Probleme des Paradoxons gemildert werden können.

Am Anfang stand Bolivien

Am Anfang des Buches steht der Entscheid von Aotearoa Neuseeland 2017, den Whanganui River und seine Zuflüsse als Rechtsperson anzuerkennen. Wenige Tage später entschied der Oberste Gerichtshof des indischen Bundesstaates Uttarakhand, dass die Flüsse Ganga (Ganges) und Yamuna juristische Personen sind mit dem Status von juristischen Minderjährigen. Kurz darauf verlieh dasselbe Gericht allen natürlichen Objekten im Bundesstaat Uttarakhand Rechtskörperschaft. Und im Mai hat das Verfassungsgericht von Kolumbien die «biokulturellen» Rechte des Río Atrato anerkannt und verlieh damit dem Fluss selbst Rechtsansprüche. Vorreiterin war bereits 2010 Bolivien mit einem Gesetz über Mutter Erde, das den rechtlichen Status der Flüsse grundlegend veränderte.

Wenn Flüsse Rechtsansprüche erhalten, bedeutet das, dass das Gesetz Flüsse als juristische Personen betrachten kann. Dadurch entstehen neue Rechtsansprüche, die durchgesetzt werden können. O’Donnell schreibt schon 2018 im Vorwort: «Weltweit wird das Konzept der Rechtskörperschaft der Natur immer mehr zum Mainstream im Umweltrecht. Es wächst die Überzeugung, dass es einen neuen Ansatz für den Umweltschutz darstellt und die Möglichkeit bietet, die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt grundlegend zu verändern.»

Und tatsächlich: Seit Erscheinen des Buches Ende 2018 wurden weitere Flüsse zu Rechtssubjekten: der Turag und alle anderen Flüsse in Bangladesh 2019 und der Mutehekau Shipu/Magpie River in Kanada 2020  (Erin O’Donnell, Repairing our relationship with rivers: water law and legal personhood, 2023). Im Juni 2020 unterzeichneten 600’000 Spanier:innen ein Volksbegehren, die Salzwasserlagune Mar Menor nördlich von Cartagena in der Region Murcia als Rechtssubjekt anzuerkennen. Anfang April 2022 beschloss das spanische Parlament einen entsprechenden Gesetzentwurf, dem der spanische Senat im September 2022 zustimmte. 2023 konstituierte sich das Repräsentant:innen-Komitee, das aus drei Vertreter:innen der Zentralregierung, drei Vertreter:innen der Regionalregierung und sieben Vertreter:innen der Zivilgesellschaft besteht. Hinzu kommt die Überwachungskommission aus Gesandten der Gemeinden am Mar Menor sowie ein wissenschaftliches Komitee. Sie können klagen und als Verteidiger:innen des Mar Menor und seiner Interessen auftreten, wo immer das nötig ist. (Quelle: Wikipedia)

Uneinheitliche Rechtssetzung und offene Fragen

Was wie ein einheitlicher Prozess tönt, ist in Wirklichkeit eine Vielfalt an Rechtsformen, Rechtssetzungen, Rechtsauslegungen… Dies schafft laut O’Donnell Lernchancen, aber auch Unsicherheit in der juristischen Handhabe. O’Donnell referiert, wie «environmental water managers, or EWMs», also Organisationen, die für das Management von Wasser zuständig sind, diese Rechte in ihrem Kampf für die Natur und die Flüsse nutzen. Sie beschreibt und erklärt verschiedene Ansätze, ihre Reichweite und ihre Widersprüche.

Kapitel 8 trägt denn auch explizit den Titel «Rechtsansprüche für Flüsse. Ein Grund zum Feiern oder zur Sorge?» Die Sorge, die O’Donnell formuliert, lautet im Prinzip so: Wenn ein Fluss nicht nur ein Rechtsobjekt, sondern ein Rechtssubjekt ist, das über die gleichen Rechte wie alle anderen Rechtskörperschaften verfügt, dann müsste der Fluss ja auch seine Rechte selbst wahrnehmen und vertreten können. «Diese Darstellung stützt sich auf den Ursprung der Regulierung durch private Interessen: dass die Regulierung als Ergebnis konkurrierender individueller Interessen entsteht.» (Tabelle Seite 187) Geschwächt wird dadurch allenfalls der Gedanke, dass wir Menschen verantwortlich für die Natur und die Flüsse sind und dass wir sie schützen müssen.

Entscheidend ist laut O’Donnell, ob und wie die Rechte der Natur mit den sozialen und kulturellen Werten und den dort lebenden Menschen verbunden werden und wie diese Menschen die Rechte der Natur verstehen und verteidigen. «Dort, wo diese Rechte in einen starken kulturellen Rahmen eingebettet sind, scheint es wahrscheinlicher zu sein, dass sie einen kooperativen Ansatz für die Flussbewirtschaftung und die Wasserbewirtschaftung schaffen. (…) Ohne geeignete Massnahmen, um Menschen und Orte miteinander zu verbinden und kulturelle Werte zu stärken, können neue Rechtsansprüche für Flüsse leicht nach hinten losgehen und zu einer Rechtsreform führen, die den Schutz der Flüsse wieder schwächt. Letztlich müssen sich die politischen Entscheidungsträger:innen darüber im Klaren sein, welche Rolle die neuen Rechtspersonen bei der Wasserbewirtschaftung spielen werden.» (Schlussfolgerungen, S. 195)

Ein Buch für…?

Für wen ist dieses Buch? Pflichtlektüre sollte es für Jurist:innen sein, die sich mit Umweltrecht befassen. Lesenswert ist es aber auch für alle, die sich für konzeptionelle Überlegungen interessieren, wie Umweltschutz neu gedacht und gelebt werden kann. Ob die Rechtskörperschaft für Flüsse und generell die Natur dabei der Weisheit letzter Schluss sind, kann bezweifelt werden. Aber anregend und im konkreten Fall hilfreich im Kampf gegen Umweltzerstörung ist es auf jeden Fall.

Kommentar zur Besprechung von Maude Barlow

Du stellst die richtige Frage: Wie werden sich diese lokalen Initiativen zum Schutz der Flüsse vor Gericht bewähren?

Das ist bisher die grosse Unbekannte. Im Gegensatz zu anderen Umweltschutzmassnahmen, die mit Lobbyarbeit bei den Regierungen beginnen, um bestimmte Gesetze zum Schutz der Natur durchzusetzen, werden die Rechte der Natur/Rechte der Flüsse von unten her, von der Basis und der lokalen Gemeinschaft initiiert und sind noch nicht erprobt. Wir in Kanada sind begeistert davon, weil es indigene Völker sind, die diese Kampagne anführen, und sie haben ganz klare Rechte zum Schutz der natürlichen Ressourcen in ihrem Gebiet, die in der UN-Erklärung über die Rechte indigener Völker verankert sind, die Kanada ratifiziert hat. Ich denke, dass die Frage der Rechte der Ureinwohner:innen bald vor den Obersten Gerichtshof kommen wird.

Ich finde das sehr aufregend!

 

*Legal Rights for Rivers. Competition, Collaboration and Water Governance. By Erin O'Donnell. 212 Seiten. Erschienen im November 2028 bei Routleldge in der Serie «Earthscan Studies in Water Resource Management». ISBN 9781138603257.

Erin O’Donnell ist Senior Fellow und Lehrbeauftragte an der University of Melbourne Law School, Australien. Sie ist ausserdem unabhängige Beraterin für die Weltbank im Bereich Wassermärkte und beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren mit Wasserpolitik im öffentlichen und privaten Sektor. In ihre Arbeit konzentriert sich O’Donnell sich auf indigene Wasserrechte, Wassergerechtigkeit, rechtliche Rechte an Flüssen und Wassermärkte.

Neuere Veröffentlichungen von Erin O'Donnell: